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05. September 2021

Veröffentlicht vor mehr als 2 Jahren, 16. Sep. 2021

Tage, wenn sie scheinbar uns entgleiten,
gleiten leise doch in uns hinein,
aber wir verwandeln alle Zeiten,
denn wir sehnen uns zu sein.

(R. M. Rilke)

Das Leben – es gefällt uns manchmal nicht, und wir jammern über dieses und jenes. Der Tod – er gefällt uns schon gar nicht. Also, dann doch lieber das Leben. Und so geben wir unser Bestes. Wir bemühen uns, Glück und Erfüllung zu finden. Zuerst im Partner, dann in den Kindern, dann in den Enkeln, und am Schluss auf dem Mountain-Bike. Naja, joggen tut`s auch. Joggen für die Gesundheit. Wenn es sein muss, bis zum Umfallen. Immerhin ein schönerer Tod als dahinzusiechen. Was tun wir nicht alles, um fit zu bleiben! Ich weiss, ich bin ein bisschen böse.

Im Notfall gibt’s auf SRF 2 den «Sport-Flash» und für die Deutschen am Samstag die Sportschau mit Bier. Im Fernsehen wird ungefähr so dafür geworben: Die ganze Woche gibst du alles (in der Arbeit). Der Samstag gibt dir alles zurück, mit der Sportschau …, und einem Kasten Bier. So anspruchsvoll, bzw. so anspruchslos – je nach Sichtweise – leben Millionen von Menschen. Ja, sie leben …

«… aber wir verwandeln alle Zeiten,
denn wir sehnen uns zu sein.»

Wirklich, sehnen wir uns zu sein, oder fürchten wir uns vielmehr davor, einmal nicht zu sein!? Hans wie Heiri?! Ich weiss es nicht! Wie auch immer: Der Mensch braucht Beschäftigung und Ablenkung, damit ihn die Gedanken an Krankheit und Tod nicht innerlich zerfressen. Das kann ich gut nachvollziehen. Aber wie bei allem, kommt es auch hier auf das Mass an! Das heisst: Wieviel Ablenkung einerseits, und wieviel Nachdenklichkeit andererseits tun mir gut?

Sie erinnern sich vielleicht an die Geschichte, die ich erst vor ein paar Wochen erzählt habe? Die Geschichte von dem Forscher, der mit einer Gruppe indischer Träger im Himalaja unterwegs war. Nach einer Pause drängte er die Einheimischen zur Eile. Sie aber blieben sitzen und erklärten dem Forscher, dass sie jetzt nicht weitergehen könnten, da ihre Seelen noch nicht nachgekommen sind.

So erlebe ich den Menschen am Ende des 20. und am Beginn des 21. Jahrhunderts. Er hat seine Seele zurückgelassen. Er hat den Bezug zu Gott verloren, zur Natur, zur Spiritualität, ja, zu sich selbst. Er glaubt, er könne ewig leben. Dafür joggt er um die halbe Welt, rast mit dem Mountain-Bike über Stock und Stein, schreit sich in den Fussball-Stadien gleichsam die Seele aus dem Leib, fördert künstliche Intelligenz anstelle von Mitgefühl und reagiert auf das Virus rein technisch.

Am Ende steht er trotzdem da – der Tod. Ob der moderne Mensch dann sagen kann, er habe gelebt? Ohne die Seele ist das kaum möglich.