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4. Advent (18. Dezember 2022)

Veröffentlicht vor mehr als einem Jahr, 23. Dez. 2022

Viele, vor allem natürlich ältere Menschen, trauern ein bisschen den “alten Zeiten“ nach. Dazu gehört meine Mutter und mittlerweile auch ich. Meine Oma gehörte nicht dazu. Nur zu verständlich bei dem, was sie während und nach dem Krieg hat durchmachen müssen. Und selbstverständlich hatte sie recht, wenn sie sagte: “Früher war es auch nicht besser!“ Es war schon immer so: Einmal war da Krieg und dort Frieden, und dann war dort Frieden und da Krieg usw. …

Wenn ich lieber in den 50er und 60er Jahren leben würde, dann nicht deshalb, weil diese Zeit „besser“ war als die heutige, sondern weil diese Zeit mir besser entsprochen hat. Ich mag sie nicht, diese global brutal digitalisierte Welt. Selbst das Pinkeln geht an manchen Bahnhöfen nur noch digital. Das kommt einer Entwürdigung vor allem der alten Menschen gleich, die zu jener Gruppe gehören, die sich noch nicht vollends haben digitalisieren lassen. Ein Blick auf die junge Generation müsste eigentlich auch zu denken geben. Zum Beispiel haben einer aktuellen Studie zufolge, unsere Jugendlichen vor wenigen Jahren im Schnitt noch 7 Freunde (menschliche), jetzt sind es bereits nur noch 5!

Ich passe sowieso nicht in diese Welt, und in diese Zeit schon gar nicht, aber was soll ich machen? Ich bin nun mal da, und das schon bald 70 Jahre! Ich bin bis jetzt gesund, hatte viel Glück und ein schönes Leben – immer noch! Ich gehöre zu den Privilegierten dieser Welt und ich habe absolut keinen Grund zu klagen. Tu ich auch nicht. Insofern werde ich die paar Jahre, die vielleicht noch vor mir liegen, auch schaffen – mit globaler Überwachung und digitaler Kommunikation. Fragen, wie jene, warum ich hier bin und was ich hier soll, begleiten mich seit über 60 Jahren. Ein paar Antworten habe ich gefunden, andere stehen noch aus.

Alles sehr kompliziert, nicht nur diese Welt, sondern auch dieses Nachdenken und Grübeln. Deshalb rennen die Leute ja so viel in der Gegend umeinander, joggen durch die Fussgängerzonen, rennen in die Sportstadien und zu allen möglichen Riesen-Events, auf denen sie sich zusammenquetschen und sogar aufeinander herumtrampeln. Vordergründig aus gesundheitlichen und sportlichen Gründen – nach dem Motto «ein bisschen Spass muss sein» – in Wahrheit aber, laufen sie vor dem Nachdenken und Grübeln davon, und letztlich vor dem Tod. Mit letzterem wollen sie schon gar nichts zu tun haben. Weg damit, in die Altersheime und Spitäler. Nicht, dass ich das nicht verstehen könnte, nur, eine Lösung ist das nicht! Niemand kann vor sich selbst davonlaufen.

Aber vielleicht ist es gar nicht so kompliziert? Vielleicht muss man gar nicht vor sich selbst davonlaufen. Vielleicht hätten wir substanziell sogar mehr vom Leben, wenn wir uns entschleunigen, und wir uns nicht ganz und gar abhängig machen von der digitalen Welt.

Und das bringt mich wieder zurück zum „Früher“, in die Steinzeit vor ungefähr 60 Jahren, als an den Fenstern der Kindergärten und Schulen in der Adventszeit noch Tannenzweige, Kerzen und adventlicher Schmuck zu entdecken waren und den Kindern noch Geschichten und Märchen erzählt wurden, wie z.B. die Geschichte von der “Heiligen Nacht“ von Selma Lagerlöf. Am Ende heisst es da:

Nachdem die Grossmutter die Geschichte fertig erzählt hat, legte sie mir die Hand auf den Kopf und sagte: “Das musst du dir merken, denn es ist so wahr, wie ich dich sehe und du mich siehst. Es kommt nicht auf Licht und Lampen an und auch nicht auf Sonne und Mond, um zu sehen. Was wir brauchen, sind Augen, die Gottes Herrlichkeit erkennen können.“

Aber was tun, könnte man fragen, wenn man diese Augen nicht hat? Von wegen! Jeder Mensch hat diese “Augen“. Die Frage ist vielmehr, was wir uns anschauen, wo wir hinschauen, und vor allem: wo wir wegschauen!

Ich erlebe es seit über 40 Jahren mit den Kindern. Sie stellen religiöse Fragen. Sie “sehen“ und spüren Gott noch. Nur, immer mehr Eltern gehen nicht darauf ein, können es gar nicht, weil sie selbst keinerlei Bezug zum Göttlichen mehr haben. Die ursprüngliche Fähigkeit der Kinder, “Gottes Herrlichkeit“ in dieser Welt zu erkennen, wird nicht ernst genommen, wird nicht gefördert und verkümmert deshalb allmählich. Und so wachsen sie – wie ihre Eltern auch – mehr und mehr in eine gottlose Welt hinein.

Damit die Predigt nicht so dramatisch endet, schliesse ich mit einem heiteren Text (den natürlich nicht alle lustig finden) aus der “Steinzeit“, den mir jemand ganz zeitgemäss, nämlich digital zugesandt hat:

Wir Alten

lagen früher auf unzertifizierten Matratzen,
assen Erde und Würmer,
trugen Baseballkappen statt Sturzhelme,
sassen ohne Kindersitz im Käfer,
tranken Cola und Fanta,
naschten ohne rassistische Hintergedanken Mohrenköpfe
kletterten unbeschützt auf Bäume
und haben ohne Google-Maps die nächste Bushaltestelle gefunden.
(Wahnsinn!)
Seltsamerweise haben wir all das überlebt.