Worüber soll einer wie ich am Muttertag predigen? Einer wie ich, der nie Vater und schon gar nicht Mutter sein wollte! Einer wie ich, der nie Kinder haben wollte – nicht, weil ich Kinder nicht mag, sondern gerade, weil ich sie mag und sie mir leidtun.
Ich erzähle Ihnen, um was es in dem Film «Capernaum» geht, der auf dem Filmfestival in Cannes 2018 mit 15-minütigen Standing Ovations und dem Preis der Jury honoriert wurde. 2019 erhielt er die Oscar-Nominierung für den besten fremdsprachigen Film.
Gerade einmal 12 Jahre alt, steht Zain schon zum zweiten Mal vor Gericht. Beim ersten Mal war er der Angeklagte, nachdem er einen „Hurensohn“, so Zain, niedergestochen hatte. Nun ist er selbst der Ankläger. Er klagt seine eigenen Eltern an. Auf die Frage nach dem Warum, antwortet er: „Sie haben mich auf die Welt gebracht. Eine Welt voller Leid und Schmerzen.»
In chronologisch geordneten Rückblenden erzählt der Film seine Vorgeschichte. Zains elfköpfige Familie haust unter widrigsten Bedingungen auf engstem Raum in einem Armen-Viertel von Beirut. Der Vater verwehrt den Kindern die Schule; stattdessen müssen sie als Straßenverkäufer mit zum Unterhalt beitragen. Als einziger Junge und Ältester zugleich hat Zain die größte Verantwortung; dazu gehören auch Arbeiten für den Besitzer ihrer Wohnung, der ihnen dafür die Miete erlässt. Dass dieser zudem ein Auge auf seine Lieblingsschwester, die 11-jährige Sahar, geworfen hat, ist Zain nicht entgangen. Als sie ihre erste Regel hat, klärt er sie auf und warnt sie. Dennoch geschieht, was er befürchtet. Er rebelliert offen gegen ihre Verheiratung und bereitet heimlich die Flucht mit ihr vor. Als beides scheitert, läuft er von zuhause weg.
In den Slums findet er Zuflucht bei der aus Äthiopien stammenden Rahil, die illegal als Putzfrau in einem Vergnügungspark arbeitet. Sie hat einen gut einjährigen Sohn, Yonas, den sie tagsüber heimlich mit zur Arbeit schmuggelt, um ihn zu versorgen. Nun gibt sie ihn Zain in Obhut. Eines Tages wird sie jedoch verhaftet und kehrt nicht zurück, ohne Zain benachrichtigen zu können. Fortan muss er allein für sich und Yonas sorgen. Die erworbene Sozialkompetenz und Erfahrung helfen ihm dabei. Er baut sogar vor und legt Geld beiseite, um sich illegal nach Schweden aus schleusen zu lassen. Der Fluchthelfer, der Yonas in eine gute Familie zu geben verspricht, verlangt außerdem Zains Geburtsurkunde. Heimlich schleicht sich Zain zuhause ein, wird aber beim Suchen ertappt und gleich darauf, wie auch früher schon, von seinen Eltern beschimpft. Als sie einen Brief aus dem Krankenhaus erwähnen, wird er hellhörig, befürchtet das Schlimmste, und erfährt schließlich, dass seine Schwester Sahar gestorben ist. Daraufhin schnappt er sich ein Messer und stürzt los …, zu dem «Hurensohn».
In der Tat ist Sahar an den Folgen ihrer frühen Schwangerschaft gestorben. Ihr Mann erscheint vor Gericht und ist sich keiner Schuld bewusst. Zains Mutter besucht ihren Sohn in der Haft und teilt ihm mit, sie sei selbst wieder schwanger. Sie hofft, ihn mit diesem „Gottesgeschenk“, das den erlittenen Verlust ausgleichen soll, zu besänftigen, empört ihn aber umso mehr. Vor Gericht verschärft Zain daher seine erste Klage und fordert, seinen Eltern die Geburt weiterer Kinder, um die sie sich nicht kümmern, zu verbieten. Das Gerichtsverfahren wird eingestellt und zu den Akten gelegt.
Regisseurin Nadine Labaki und ihr Team arbeiteten insgesamt mehr als sechs Jahre an dem Film. Allein vier entfielen auf Recherchen unter Kindern aus den Armenvierteln und Slums von Beirut, viele von ihnen Straßenkinder und manche auch aus syrischen Flüchtlingsfamilien stammend. Labaki erfuhr aus ihrem Mund von extremen Fällen der Vernachlässigung und des Missbrauchs. Die letzte Frage, die sie an die Kinder richtete, war stets: „Bist du froh, hier zu sein; bist du glücklich, am Leben zu sein?“ Fast ausnahmslos antworteten sie mit Nein.
Was ist der Grund für das Elend von unzähligen Kindern? Der Grund ist, dass bei Zig-Millionen Menschen offensichtlich weder Hirn noch Herz funktionieren, sondern lediglich die Geschlechtsorgane.
Obwohl wir hier im Vergleich zum Rest der Welt wie die Made im Speck leben, kann mich dies, sowie all das Schöne in der Welt, und auch all die wunderbaren Menschen, denen ich begegnen durfte, kann mich dies nicht über die Grausamkeit des Menschen hinwegtrösten. Dabei dürfen wir nicht vergessen: ich habe jetzt «nur» das Elend der Kinder thematisiert!
Ich jedenfalls möchte kein Lebewesen an dieses «Monster der Schöpfung» ausliefern. Deshalb bin ich froh, gleichsam der Letzte meiner «Art» zu sein und keine Nachkommen zu haben. Meine Mutter kann das verstehen. Die meisten anderen Mütter – und Väter – nicht. Deshalb werden schon in wenigen Jahren nicht mehr 8, sondern 9 Milliarden Menschen auf der Erde leben.