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«Das Gute im Menschen» (7. August 2022)

Veröffentlicht vor mehr als einem Jahr, 08. Aug. 2022

Vorausschicken möchte ich, dass mich der äusserst lesenswerte Artikel in der «Zeit» von Wolfgang Uchatius vom Dezember 2020 zur heutigen sowie zur Predigt am nächsten Sonntag inspiriert hat.

Der Verfasser des alttestamtlichen Buches Jesus Sirach fragt im 30. Kapitel: “Was ist der Mensch, und wozu nützt er? Was ist gut an ihm, und was ist schlecht?“

Dazu folgende Geschichte: Am 7. Januar 1894 ist es in Passau sehr kalt. An diesem Tag spielt ein vierjähriger Junge am Ufer des zugefrorenen Inns. Er läuft aufs Eis und bricht ein. Das sieht ein zweiter Junge, ebenfalls vier Jahre alt, er ist der Sohn des Grundbesitzers. Er könnte jetzt einfach stehen bleiben und beobachten, wie der andere Bub um sein Leben kämpft, aber Johann läuft zum Ufer und zieht den Buben aus dem Fluss.

Johann Nepomuk Kühberger wird später Pfarrer und Musiker. Auf seine Initiative hin erhält der Passauer Dom eine neue Orgel, es wird die grösste Orgel der Welt. Kühberger war in Passau und Umgebung bekannt – vielleicht auch noch ein wenig in Bayern. Mittlerweile ist er aber schon seit 65 Jahren tot. Haben Sie schon von ihm gehört? Von dem Jungen aber, den er gerettet hat, haben Sie alle schon gehört. Er ist einer der bekanntesten Menschen, die je gelebt haben, … Adolf Hitler.

Beweisen lässt sich diese Geschichte nicht. Sicher ist, dass Adolf Hitler damals mit seinen Eltern in Passau gelebt hat, und zwar in der Kapuzinerstrasse 31, dem Haus der Familie Kühberger, in dem die Hitlers eine Wohnung gemietet hatten. Sicher ist auch, dass die Donau-Zeitung am 9. Januar 1894 berichtete: «Am verflossenen Sonntag wurde ein Knabe gerade noch rechtzeitig vor dem sicheren Tode des Ertrinkens gerettet. Derselbe betrat am Inn unterhalb des Garnisons-Lazarettes neu gebildetes Eis und brach durch. Glücklicherweise konnte er von seinen beherzten Kameraden gerettet werden.» Ziemlich sicher ist, dass Kühberger später mehreren Menschen erzählte, er habe als kleiner Junge dem Hitler das Leben gerettet und diese Gewissheit plage ihn noch immer.

Hätte der kleine Johann seinen Kameraden Adolf damals ertrinken lassen, wäre der Menschheit vermutlich viel erspart geblieben. Ein zerstörtes Europa. Auschwitz. Der Mord an sechs Millionen Juden. Insgesamt um die sechzig Millionen Kriegstote. Die gute Tat des Johann Nepomuk Kühberger hatte entsetzliche Folgen. War sie deshalb keine gute Tat?

Uchatius schreibt: «Das Gute zeigt sich auch und gerade darin, dass es nicht wissen will, was der Mensch, der da in Not ist, mit seinem geschenkten Leben anstellen wird. Das Gute fragt nicht nach dem Morgen, sondern nur nach dem Heute und danach, was zu tun ist, um jetzt, in diesem Moment, einen Menschen zu retten. Solange es Kinder gibt, die andere Kinder aus dem Wasser ziehen, ist die Welt noch nicht verloren.»