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Der Zeitgeist (26. Mai 2022)

«Geht hinaus in die ganze Welt, und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen!» (Markus 16,15). Ja, das haben die Jünger getan, und es folgte ein beispielloser Siegeszug. Christen dominierten und beherrschten über Jahrhunderte die Welt. Die Kirche war weit über tausend Jahre lang die mächtigste Organisation auf Erden – teils mächtiger als Kaiser und Könige. Das hat sich geändert. Doch heute will ich die Kirche nicht kritisieren, aus dem einfachen Grund, weil sie zurzeit fast nur noch kritisiert wird.

Keine Frage, die Kirche hat schwere Fehler begangen, für die sie heute bezahlen muss. Für unsere Fehler bezahlen, das müssen wir alle; ein Wirtschaftsunternehmen genauso wie ein Sportverein, der König genauso wie der Bauer und auch Sie und ich. Alles, was wir tun, wirkt sich sowohl auf das Leben der Anderen wie auch auf unser eigenes Leben aus und kehrt auf irgendeine Art irgendwann zu uns zurück. Das Problem ist, die meisten Menschen glauben das nicht, und wenn sie die Rechnung erhalten, wissen viele nicht mehr wofür. Meist ist es eh schon zu spät.

In Konkurrenz zum Heiligen Geist wirkt der sogenannte «Zeitgeist». Wie er genau zustande kommt, weiss man nicht so genau. Jedenfalls prägt er die jeweilige Zeit massiv, und das keineswegs nur positiv. Der Zeitgeist kann innerhalb von wenigen Jahren von einem Extrem ins andere wechseln. Von der «freien Liebe» Ende des letzten Jahrhunderts hin zur neuen Prüderie am Anfang unseres Jahrhunderts.

Oder: Hat man vor 20 Jahren noch von den Bürgern unseres Landes gesprochen, muss man heute von den «Bürgerinnen und Bürgern» sprechen. Ich dürfte – nach zeitgeistlicher Correctness – nur von «Ministrantinnen und Ministranten» reden, auch wenn’s ein Zungenbrecher und mühsam ist. Als Mann sollte «Mann» zu jeder Frau mindestens 1,5m Abstand halten, und dies nicht wegen Corona. Tut er das nicht, kriegt er von «Me Too» ein Auge «blue». Da hat sich inzwischen Gott sei Dank etwas geändert, nachdem sich manches als «Fake» herausgestellt hat und Fälle ans Licht kamen, in denen Männer von Frauen belästigt wurden.

In meinen ersten 10 Jahren als Priester leitete ich mehrere Jugendgruppen. Wenn wir uns begrüssten und verabschiedeten, dann umarmten wir uns untereinander alle. Das war so normal wie essen und trinken. Heute ist das geradezu unvorstellbar! Nicht nur Corona, sondern auch der «Zeitgeist» haben zugeschlagen. Ich muss beim Beichtgespräch die Türe offenlassen – nicht nur zum Schutz der Kinder, sondern vor allem zu meinem Schutz.

Die Kirche hat mittlerweile, zumindest in unseren Gefilden, einen ausserordentlich schlechten Ruf, nicht nur, aber vor allem wegen der zahllosen Missbrauchsfälle und deren Vertuschung. Natürlich lässt sich da nichts schönreden. Kein Thema allerdings ist, dass die Kirche auch viel Gutes getan hat und tut! Momentan wird hauptsächlich auf sie eingedroschen, und dies von fast allen Seiten. Eine differenzierte Betrachtungsweise der Dinge entspricht nicht dem momentanen Zeitgeist.

  • Wir hören und sehen jeden Tag nur noch Selenskyj, obwohl auch der kein Heiliger ist!
  • Die Russen begehen Gräueltaten. Ja, das ist furchtbar. Allerdings ist jeder Krieg als solches eine Gräueltat, und der Ukraine-Krieg wäre der erste, in dem nur von einer Seite Gräueltaten begangen werden.
  • «Die» Russen sind die Bösen und «die» Ukrainer sind die Guten, wie lange Zeit zuvor «die» Deutschen die Nazis waren, und «die» Amerikaner die «Retter», trotz Vietnam, Irak, Afghanistan und brutalster Rassendiskriminierung im eigenen Land – teils bis heute!
  • Wer die Corona-Massnahmen kritisierte, galt und gilt als Rechtsaussen.
  • Wer nicht «Bürgerinnen und Bürger» sagt, Gottesdienstbesucherinnen und Gottesdienstbesucher, Ministrantinnen und Ministranten, respektiert angeblich keine Frauen.
  • Wer nichtsahnend von «Schwarzen» spricht, ist ein Rassist.
  • Wer es wagt, die Medien und die momentan einseitige Berichterstattung zu hinterfragen, wird als Feind der freien Presse verunglimpft.
  • Wer aus der Kirche austritt, erntet grosses Verständnis. Wer in die Kirche eintritt stösst auf Kopfschütteln.

Nein, eine differenzierte Betrachtungsweise ist zurzeit nicht angesagt! So finde ich es erschreckend, wie sehr sich die Masse zum Sklaven des jeweiligen Zeitgeistes und leider auch der Medien macht, obwohl – wie es im Römerbrief geheissen hat – «wir nicht einen Geist empfangen haben, der uns zu Sklaven macht, sondern der uns frei macht!» (Röm. 8,15).

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