«Einer trage des andern Last» (24. September 2023)
Veröffentlicht vor 2 Monaten, 25. Sep. 2023
Ein Grossteil meiner Arbeit beruht auf Intuition. Man könnte auch sagen: Eingebung. Dies betrifft vornehmlich die Gestaltung der Gottesdienste, insbesondere die Trauerfeiern. In der Regel erhalte ich irgendeine Eingebung, die ich ernst nehme und welcher ich nachgehe. Meistens liege ich dann nicht so daneben – meistens, natürlich nicht immer!
Frau S. ist einen tragischen Tod gestorben, allein draussen in ihrem Garten. Bei der Vorbereitung der Trauerfeier erhielt ich die Eingebung, jenen Evangeliums-Text zu verwenden, den Sie vorhin gehört haben. Für jene, die nicht aufgepasst haben, wiederhole ich ihn nochmal: Jesus sprach: Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen. Nehmt eure Last auf euch und lernt von mir, denn ich bin gütig und von Herzen demütig. So werdet ihr Ruhe finden für eure Seele. Intuitiv war mir klar, dass Frau S. schwere Lasten zu tragen hatte, und dass ein Grossteil dieser Lasten keineswegs die ihren waren. Manche Menschen können das. Sie können Lasten anderer Menschen mittragen, ohne zusammenzubrechen.
Zwei Tage später erhielt ich den Lebenslauf von ihrer Nichte. Sie hatte ein Gebet gefunden, welches Frau S. ausgeschnitten und besonders aufbewahrt hat. Dieses Gebet hat Eingang in den Lebenslauf gefunden und lautet: «Lieber Heiland, solltest Du mich rufen diese Nacht zu Dir, o geh nicht zu streng ins Gericht mit mir… Du hast am Kreuze gelitten für mich, gern will auch ich leiden für Dich. Doch verlass Du in meiner Angst mich nicht.» Als ich das gelesen habe, war mir klar, “die da oben“ haben mich wieder einmal auf die richtige Spur geführt.
Manchmal sehe ich Eltern mit einem schwer behinderten Kind. Dabei ist mir aufgefallen, dass einige Eltern schon sehr alt sind. Sie wollen und sie müssen alt werden, weil sie wissen, dass ihr Kind jene Zuwendung und Fürsorge höchstwahrscheinlich nicht mehr erhalten wird, wenn sie gestorben sind. Also helfen sie ihrem Kind, die Last seiner Behinderung so gut es geht und so lange wie möglich mitzutragen. Einer trage des anderen Last! Das schwerbehinderte Kind könnte seine Last alleine nicht stemmen, es könnte nicht überleben.
Wenn ich solche Menschen sehe, tauchen Schuldgefühle auf. Nicht, weil es mir so gut geht, sondern weil ich trotzdem immer wieder über dies und jenes jammere.
Im Lied Nr. 47, «Zu dir will ich mich wenden», aus der Schubert-Messe, heisst es am Schluss: «gib uns ein fühlend Herz.» Menschen ohne ein «fühlend Herz» gibt es immer mehr. Sie gehen im wahrsten Sinne des Wortes “über Leichen“ – nicht nur im Himalaja, sondern zum Teil auch in den Medien. Dank künstlicher Intelligenz wird die Zahl der Menschen ohne Mitgefühl weiter zunehmen. Also müssen jene, die noch über ein «fühlend Herz» verfügen, immer mehr und grössere Lasten mittragen.