Categories Predigten

«Jenseits» (29. Juli 2023)

Im Johannes-Evangelium, das wir eben gehört haben, heisst es: “Euer Herz lasse sich nicht verwirren. Im Hause meines Vaters (also im Jenseits) gibt es viele Wohnungen.“ Für manche von Ihnen könnte es schon ein bisschen verwirrend sein, wenn ich jetzt sage, dass dieses Jenseits vielleicht gar nicht so weit weg ist! Es könnte sich vielmehr gleichsam nebenan befinden, und die Reise dahin würde keinen Wimpernschlag lang dauern. Sie könnte leichter und schneller vonstatten gehen als jede Reise im Diesseits. Dieser Glaube mag der eines Pfarrers sein, doch es ist schon seit einigen Jahren auch die Theorie ernst zu nehmender Wissenschaftler, wie z.B. die des Max Tegmark, Physikprofessor am berühmten Massachusetts Institute of Technology mit Schwerpunkt Kosmologie. Tegmark, vor ihm Erwin Schrödinger und Hugh Everett, inzwischen noch viele andere Wissenschaftler, wie Dieter Zeh, Brian Green, David Deutsch gehen nämlich davon aus, dass wir von unzähligen, unsichtbaren Parallelwelten umgeben sind. Es handelt sich um Dimensionen von Zeit und Raum, die neben der Zeit und dem Raum existieren, in denen wir jetzt leben. Tegmark und andere, leiten diesen Gedanken aus der Inflationstheorie ab, welche besagt, dass sich das Universum nach dem Urknall schlagartig ausgedehnt hat und es bis heute tut. Der Mensch spreche zwar immer von «dem» einen Universum, meine aber in der Regel, “nur den Teil, der für uns sichtbar ist». Es gibt aber noch zahlreiche, wenn nicht gar unendliche Universen, die für uns im Dunkeln liegen – nebenan, im Dunkeln, noch! Um sehen zu können, was dort passiert, müssten wir allerdings noch ein paar Millionen Jahre auf das Licht warten, bis es bei uns angekommen ist. Etwas verwirrt?!?

Ich beende hiermit den kleinen quantenphysikalischen Ausflug, allerdings nicht ohne wieder einmal auf eine meiner für mich wichtigsten Lebensdevisen aufmerksam zu machen, nämlich: “so viel wie möglich für möglich halten und so wenig wie möglich für unmöglich!“

Das “Jenseits“ befindet sich manchmal wirklich nur um die Ecke. Es wird einfach häufig nicht gesehen und als solches erkannt – wie auch, wenn den Kindern der Blick in eine andere Welt schon im Elternhaus versagt wird, und erst recht von jener Welt, die zunehmend von künstlicher Intelligenz bestimmt werden wird.

Am Ortsausgang von Röschenz, auf der Strasse Richtung Chall zweigt links ein unscheinbarer, kaum sichtbarer, kleiner Feldweg ab. Man biegt ab, und quasi um die Ecke und nach einem Wimpernschlag befindet man sich in einer anderen Welt, in einer Art “Paralleluniversum“. Dort, ganz versteckt, von mannshohem Gras umgeben, ohne Einfahrt und Garage, taucht das Häuschen unseres ältesten Gemeindemitglieds auf, inmitten von überwucherndem Grün. Eine andere Welt, ein Kraftort, gleich nebenan, direkt an der Strasse. Auch dieses Jahr war ich wieder kurz dort, um das Geburtstagsgeschenkt der Pfarrei zu bringen. 102 Jahre ist das Geburtstagskind jetzt alt, geistig fit und ohne Falten im Gesicht. Ich halte mich nur kurz auf, denn ich respektiere die Abgeschiedenheit, in der Mutter und Tochter leben wollen.

Ja, ich wäre sehr froh, wenn es diese “Parallelwelten“ gäbe, und damit die Chance, einst in eine zumindest heilere Welt als die unsrige zu gelangen.

Prev Röschenz 33-34.2023
Next Röschenz 35-36.2023