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Pinkeln nur digital (23. Oktober 2022)

Veröffentlicht vor mehr als einem Jahr, 24. Okt. 2022

Im Bahnhof Luzern kann man nur noch bargeldlos für den Toiletten-Zutritt bezahlen. Alternativen gibt es nicht. Vor allem Rentner und Ältere fühlen sich ausgeschlossen.

Die SBB stellen vermehrt auf Zahlen mit der Karte oder dem Handy um. So auch bei den Toiletten. Wie das SRF-Konsumentenmagazin «Espresso» berichtet, laufen in vier Bahnhöfen Pilotprojekte, in Luzern wurde im Juni komplett umgestellt. Angeblich sei das alte Bezahlsystem am Ende des Lebenszyklus gewesen. Ersatzteile gebe es nicht mehr – so die SBB! Deshalb muss ab jetzt bargeldlos gepinkelt werden. Das leuchtet natürlich jedem ein, der sich für dumm verkaufen lässt.

Für Personen, die nicht bargeldlos zahlen können, gibt es also keine Alternative. Dies musste eine Rentnerin erfahren, die beim Umsteigen vom Zug aufs Schiff im Bahnhof Luzern auf die Toilette wollte. Nur dank der Hilfe einer anderen Person, die die Schranke für sie öffnete, konnte sie das stille Örtchen benützen. Gegenüber «Espresso» sagt sie: «Ich hatte eine unglaubliche Wut.»

Genau die hatte ich auch, als ich davon zum ersten Mal hörte. Wissen Sie, was mein erster Gedanke war? Man sollte die Alten dazu aufrufen, einen Eimer zu nehmen, und diesen mit dem entsprechenden Inhalt vor dem Luzerner SBB-WC ausschütten. Und diejenigen, die für dieses bargeldlose WC verantwortlich sind, müssen die Reinigungsarbeiten vornehmen.

Heute benutzen ungefähr 93% der Schweizer Bevölkerung ab 14 Jahren das Internet. Das heißt, circa 600.000 Personen sind nicht online, die meisten davon sind über 80 Jahre alt. Dennoch sehen die SBB keinen Handlungsbedarf, Alternativen seien keine geplant. Man wolle aber die Information verbessern und eine Schritt-für-Schritt-Anleitung anbringen, sagt ein Mediensprecher. Bevor Sie dann aufs Klo können, müssen Sie erst eine Anleitung lesen. Viele werden die dazu nötige Zeit nicht aufbringen können, wobei wir wieder beim Eimer wären. Für den Notfall sollte man einen Eimer bereitstellen, mit einem Vorhang davor. Das wäre sicher eine kostengünstige Variante, aber wie die SBB verkünden, Alternativen sind nicht vorgesehen.

Abgesehen davon, dass durch diese Kreation der bargeldlosen Toiletten-Anlagen unsere wunderbar digitalisierte Welt erweitert und bereichert wird, bezeugen die SBB damit das Gegenteil von Kundenfreundlichkeit. Die paar Alten, die davon betroffen sind, was spielen die schon für eine Rolle? Aufs Ganze gesehen, fallen sie nicht ins Gewicht.

Einmal mehr wird deutlich, wie unsere Gesellschaft mittlerweile tickt: brutal-digital. Es fehlt immer mehr an Empathie, an Mitgefühl und Einfühlungsvermögen. Zumindest ich kann mich damit trösten, dass auch jene, die sich über die Bedürfnisse und Handicaps älterer und alter Menschen hinwegsetzen und unter anderem solchen “digitalen Terror“ erfinden und umsetzen, dass auch jene einmal alt werden – und zwar schneller als sie denken, sofern sie nicht vorher sterben.