Josef Imbach (1945) lehrte von 1975-2002 als Professor für Fundamentaltheologie und Grenzfragen zwischen Literatur und Theologie an der Päpstlichen theologischen Fakultät S. Bonaventura in Rom. Seit 2005 hat er einen Lehrauftrag für Katholische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Basel. Ausserdem ist er in der Erwachsenenbildung und in der praktischen Seelsorge tätig.
In seinem humorvollen Roman «Das Wunder des Malachias» lässt Bruce Marshall einen Kaplan sagen: «Überhaupt sind Wunder heutzutage aus der Mode gekommen. Wenn sich eines im Schlafzimmer unseres hochwürdigsten Bischofs ereignen würde, täte seine Gnaden alles, um den ungehörigen Vorfall zu vertuschen.»
Mit diesem Zitat möchte ich weder die Kapläne schlecht machen, noch unseren Herren Bischöfen zu nahe treten. Aber ich glaube, dass die Bemerkung des schottischen Schriftstellers zutrifft. Wer in unseren Breiten ernsthaft mit Wundern rechnet, gilt weithin als wunderlicher Kauz. Allenfalls verwendet man den Begriff ‚Wunder› noch in seiner übertragenen Bedeutung – wie etwa Zarah Leander in dem einstmals bekannten Film «Die grosse Liebe», in welchem die Schauspielerin mit der rauen Stimme den bis heute nicht ganz vergessenen Schlager anstimmt: «Ich weiss, es wird einmal ein Wunder geschehn…»
Die Tatsache, dass – so Goethe in seinem «Faust» – das Wunder «des Glaubens liebstes Kind» ist, kam den abendländischen Gottesgelehrten über Jahrhunderte hin zupass, insofern sie das Vorkommen von Wundern für einen der wichtigsten Beweise für die Wahrheit des christlichen Glaubens hielten. Dabei verschwiegen sie in der Regel, dass auch in anderen Religionen unerklärliche Ereignisse als Eingriff der Gottheit gedeutet werden.
Die Kenntnis dieser Tatsache wäre dem Glaubensbeweis nicht gerade förderlich gewesen. Ausserdem übersahen sie, dass der traditionellen Wundervorstellung (ein unmittelbar von Gott gewirktes Ereignis, das sich mittels der Naturgesetze nicht erklären lässt) eine Auffassung von Naturgesetzlichkeit zu Grunde liegt, die mehr als problematisch ist. Ein Wunderbegriff, der die Ausserkraftsetzung der Naturgesetze oder deren Hereinnahme in eine ‚höhere Ordnung› durch Gott impliziert, geht stillschweigend davon aus, dass diese Gesetze allesamt bekannt seien. Bekannt hingegen ist vielmehr, dass manches, was gestern noch als Wunder galt, heute infolge der Entdeckung immer neuer Gesetzmässigkeiten eine natürliche Erklärung findet.
Tatsächlich haben die Naturwissenschaftler im Verlauf der Jahrhunderte immer neue Entdeckungen gemacht und deshalb frühere Erkenntnisse modifizieren oder korrigieren müssen. Es besteht überhaupt kein Anlass, diese Entwicklung für abgeschlossen zu halten – ganz im Gegenteil. Für die Naturwissenschaften gibt es prinzipiell keine Wunder, sondern lediglich (noch) unerklärliche Phänomene, für die sie nach Lösungen suchen müssen.
Ausserdem ist nicht einzusehen, warum auf der religiösen Ebene für ausserordentliche Ereignisse ein direktes Eingreifen Gottes annehmen soll, wenn man gleichzeitig dazu neigt, im profanen Bereich vorwiegend auf psychosomatische und parapsychologische Theorien zu rekurrieren, wenn Unerklärliches sich ereignet.
Bei religiös Denkenden dürften derlei Überlegungen weder schlaflose Nächte verursachen, noch irgendwelche Zweifel hervorrufen. Denn Gottgläubige halten daran fest, dass der Weltenschöpfer immer und überall wirkt und nicht nur da, wo Ausserordentliches und (noch?) Unerklärliches sich ereignet. Auch das Allergewöhnlichste geht letztendlich auf Gott zurück, insofern dieser erstursächlich immer schon durch Zweitursachen wirkt.
Gott wendet sich uns Menschen zu, immer wieder und immer neu. Gott liebt uns! Das ist doch das eigentliche und einzige Wunder. Und alles, was wir erleben, sei das nun durchschaubar oder absolut unerklärlich, ist doch nur eine Folge dieses einen Wunders von Gottes Liebe. Die Rose im Garten und der Wein auf dem Tisch, die Freundschaft, die wir erfahren und das Vertrauen, das man uns schenkt, die Farben der Schmetterlinge und das Lachen der Kinder… ist das nicht alles wunderbar?