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Erntedank (2. Oktober 2022)

Veröffentlicht vor mehr als einem Jahr, 03. Okt. 2022

Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte (Matthäus 5,43-45).

Das Alte Testament (AT) ist dem Menschen in seiner Menschlichkeit näher als das Neue Testament (NT). Das AT ist nicht nur ein religiöses Buch, sondern auch ein Geschichts- und Weisheitsbuch. In ihm finden sich Horrorerzählungen, Kriegsberichte, erotische Texte, Gedichte, Mord und Totschlag. Kurz gesagt, es liefert ein Zeugnis des Lebens ab, mit allen Variationen von Gut und Böse. Widersprüche verwirren und verunsichern den Leser. Widersprüche wie “liebe deinen Nächsten“, sofern er zum eigenen Volk gehört (siehe Levitikus 19,17f), und “liebe deinen Nächsten“ auf alle Menschen bezogen bei Matthäus. Das AT ist nicht nur ein heiliges Buch für Juden und Christen, sondern es enthält Elemente von fast allen Religionen – Naturreligionen, Islam und selbst Buddhismus eingeschlossen. Das AT ist das Epos schlechthin. Es gibt kein umfangreicheres epochales Werk. Wenn du wissen willst, wie der Mensch ist, dort ist er brillant beschrieben. Wenn du wissen willst, wie Gott ist, dann wird es sehr, sehr anstrengend.

So befiehlt Gott im AT den Israeliten desöfteren in den Krieg zu ziehen. Ausserdem verlangt Gott bei zahlreichen Verbrechen die Todesstrafe. Im 5. Buch Mose, Kapitel 20 fordert Gott dazu auf, niemanden am Leben zu lassen, und bei 1. Samuel 15:18 heißt es: “Kämpfe gegen sie, bis du sie vernichtet hast. Vollstrecke den Bann an ihnen, denn sie haben sich gegen mich gestellt.” Das ist bei weitem noch nicht alles, was das AT an Aufforderungen Gottes zu kriegerischen Handlungen zu bieten hat.

Die Vorlesungen im AT während der ersten Semester meines Studiums gehörten zu den spannendsten. Allerdings geriet ich auch mächtig ins Zweifeln. Was ist das denn für ein Gott? Wie passt das zusammen? Ist das der gleiche Gott, wie er im NT beschrieben wird, der Vater von Jesus Christus, der Gott der uneingeschränkten Liebe?

Das Wichtigste vorneweg: Gott hat weder das AT noch das NT geschrieben. Das haben Menschen getan, viele Menschen, und zwar über Jahrhunderte, ja fast schon Jahrtausende hinweg. Es ist anzunehmen, dass dabei ziemlich jeder Gott auf seiner Seite wissen wollte. Das ist bis heute so. „Gott mit uns“ – dieser Schlachtruf zog sich durch die Jahrhunderte sowohl auf der einen wie auf der anderen Seite. Erst vor wenigen Tagen sah ich, wie ein orthodoxer Geistlicher die Soldaten segnet, die in den Krieg ziehen. Gott sei mit euch! Wir stehen auf der richtigen Seite! Wir töten für eine gerechte Sache, usw. …

Es ist hilfreich, über ein breites religiöses Spektrum zu verfügen, um sich selbst ein Bild machen zu können. Denn um eins kommen wir nicht herum, wir müssen unseren ganz persönlichen Glauben finden. Ausschlaggebend ist nicht, was der Mullah, der Rabbi, der Pfarrer oder dieser oder jener Guru sagen, sondern was mein Herz sagt. Der Mullah oder der Rabbi oder der Pfarrer oder auch ein Guru können hilfreich sein, aber letztlich muss ich da drinnen meinen Glauben und meinen Frieden finden.

Die Größe Gottes können wir vielleicht ein bisschen daran erahnen, dass er immer noch zu uns steht, und zwar zu den einen, wie zu den anderen, dass er es regnen lässt, “über Gerechte und Ungerechte“. Genau dafür braucht es Gott! Warum? Weil wir, wir Menschen, wir würden das nicht tun. Wir würden den vermeintlich Ungerechten das Wasser entziehen und dabei in Kauf nehmen, dass wir uns da und dort bei dem, was gerecht und was ungerecht ist, irren können.

Weder ein einzelner noch die gesamte Menschheit, ist in der Lage, die Welt besser zu machen. Wird es im Kosovo besser, wird es in der Ukraine schlechter. Wird es in Südafrika besser, wird es in Nord-Korea schlechter, usw. … Wenn jemand Gott anklagend fragt, warum er denn die Welt, und vor allem die Menschen, mit all ihrer Schlechtigkeit erschaffen hat, frage ich zurück: „Hat er das? Oder hat er „nur“ den Samen für das Leben gelegt? Was wir daraus machen, liegt in unserer Verantwortung.“