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Der Fall Lügde

Veröffentlicht vor mehr als 4 Jahren, 19. Sep. 2019

Im Prozess um den jahrelangen schweren sexuellen Missbrauch an insgesamt 34 Kindern – einige noch im Kindergartenalter – in Lügde (NRW) sind am 5. September 2019 die Urteile gefällt worden. Die beiden Männer, 56 und 34 Jahre alt, wurden zu 13, bzw. 12 Jahren mit anschliessender Sicherungsverwahrung verurteilt. Was diese Männer im Detail mit den Kindern gemacht haben, erspare ich Ihnen.

Die missbrauchten Kinder sind gezeichnet. Das Leben der meisten von ihnen ist zerstört, noch bevor es begonnen hat.

Wer allerdings meint, Fälle wie diese seien Einzelfälle und kämen nur sporadisch vor, der irrt. Wir hören ständig in den Medien davon. Und das sind nur jene Missbräuche, die ans Licht kommen. Wie hoch wird wohl die Dunkelziffer sein? Wir müssen schlicht und einfach zur Kenntnis nehmen, dass ungefähr 1% aller Männer pädophil sind. Pädophilie kommt fast nur bei Männern vor, gilt medizinisch als «psychische Störung» und ist nach heutigem Forschungsstand nicht heilbar. Was die meisten nicht wissen: Nur die Hälfte der Täter ist pädophil – die andere Hälfte nicht! Was ist dann mit dieser anderen Hälfte? Sind das ganz «normale» Männer?

Für die sexuelle Veranlagung kann ein Mensch zunächst einmal nichts. Aber wie er damit umgeht, dafür kann er sehr wohl etwas. Das gilt für die einen, wie für die anderen, wenngleich für die einen unter erschwerten Bedingungen.

Wer ausserdem meint, früher sei das anders, oder gar besser gewesen, oder Missbrauch von Kindern habe vor allem hinter Kirchen- oder Klostermauern oder in Kinderheimen stattgefunden, der irrt auch – und zwar ziemlich. Missbrauch findet vor allem in der Familie und im familiären Umfeld statt – früher vermutlich noch mehr als heute.

Nach meiner Priesterweihe war ich in einer sehr katholischen Gegend tätig. Da wurde noch kräftig gebeichtet. Ich habe viele Missbrauchsgeschichten gehört – auch in meiner Anfangszeit in der Schweiz. Es waren vor allem alte und ältere Frauen, die sich mir anvertraut haben, mit einem zum Teil sehr schweren Schicksal, das sie ihr Leben lang mit sich herumgeschleppt haben, weil sie es nicht wagten, mit jemandem darüber zu sprechen – auch nicht mit einem Pfarrer.

Ältere und alte Männer, die als Kinder missbraucht wurden, blieben meist sprachlos, und nahmen das Geschehene mit ins Grab. Die Verletzung, die Schande und die Scham, und meist auch eine tiefsitzende riesige Wut, die sie bis zuletzt empfanden, waren zu gross. Und gross war häufig auch die lebenslange Abneigung gegen alles, was mit Kirche und Pfarrer zu tun hat.

Wenn zum Beispiel ein Mädchen missbraucht wurde, sei es nun vom eigenen Vater, vom Onkel, vom Bruder oder auch vom Pfarrer, und sie der Mutter davon berichtete, unternahm diese in der Regel nichts. Was sollte sie auch tun? Zum einen war da die Schande, und zum anderen war sie abhängig von ihrem Mann. Der Ehemann galt als das «Haupt der Familie», und zwar mit allen rechtlichen Konsequenzen. Das wurde in der Schweiz erst 1988 aus dem Gesetz gestrichen. Bis hinein in die 70er Jahre erhielt kaum eine Mutter das Sorgerecht für die Kinder. Der Ehemann, als «Haupt der Familie», hatte das Sagen. Er hatte das Recht auf seiner Seite. Er verfügte über das Geld. Er war der Eigentümer des Hauses oder des Hofes. Er war fast auch der Eigentümer von Frau und Kindern. Er erhielt das Sorgerecht für sie, wenn die Frau sich trennte.

Nochmal zurück zu dem grausigen Fall von Lügde: Hier haben Jugendamt und Polizei total versagt. Bleibt zu hoffen, dass die Verantwortlichen ausgemacht und zur Rechenschaft gezogen werden.

Aber noch jemand hat versagt. Und das erscheint mir als das Unverständlichste am Fall Lügde, nämlich die Eltern der geschändeten Kinder. Es ist für mich unvorstellbar, wie man als Mutter oder als Vater nicht sieht und/oder spürt, wenn mit dem eigenen Kind etwas nicht stimmt. Es ist für mich unbegreiflich, wie man als Vater oder Mutter das eigene Kind – erinnern wir uns, einige befanden sich noch im Kindergartenalter – in diese heruntergekommene Unterkunft auf einem Campingplatz in der Stadt hat gehen lassen, und «danach» nichts gemerkt hat.

Wie die Richterin bei der Urteilsverkündung schon sagte: Es bleibt die Fassungslosigkeit. Zwei Jahrzehnte lang hatte z.B. der Hauptangeklagte Mädchen im Alter von 4 bis 14 Jahren sexuell missbraucht. Obwohl es immer wieder Hinweise auf seine Neigung gab, wurde er nicht gestoppt.

Was können wir tun?

  • Hinschauen – nicht wegschauen!
  • Hilfe holen, mit einer Vertrauensperson sprechen!

Das ist auch der Grund, warum die Kinder zur Beichte eingeladen werden: damit sie lernen, über schwierige Dinge – oder im Falle eines Falles – mit einer Vertrauensperson ausserhalb der Familie zu sprechen. Das Beichtgespräch erfolgt in einem geschützten Raum und Rahmen. Die anderen Kinder befinden sich mit der Katechetin im Raum nebenan.