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«Heimat» (3. Advent 2022)

Veröffentlicht vor mehr als einem Jahr, 12. Dez. 2022

“Unsere Heimat aber ist im Himmel.“ (Phil. 3,20)
“Wer das Reich Gottes nicht so annimmt, wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.“ (Mk.10,15)

Im Herbst hatte ich die Beerdigung eines Mannes übernommen, der nach dem Einmarsch der Russen 1956 als Zwanzigjähriger aus Ungarn floh. Er gelangte schliesslich in die Schweiz und lebte hier 65 Jahre lang bis zu seinem Tod. Im Lebenslauf war viel von “Heimat“ die Rede, und wir hörten ungarische Lieder. Der Verstorbene hat hier eine neue Heimat gefunden, aber mit seiner alten Heimat blieb er dennoch tief verwurzelt. Ich kann das gut verstehen, denn mir geht es ähnlich, und ich bin fast sicher, den meisten von Ihnen würde es ebenso gehen, mit umgekehrten Vorzeichen.

Ich war schon viele Jahre nicht mehr zu Hause (zu Hause!). Es liegt vor allem auch daran, dass es mich berührt, wenn ich vor meinem Elternhaus stehe, in dem jetzt mir fremde Menschen leben, und wenn ich die Landschaft und jene Orte sehe, die sich nicht verändert haben. Da kommen unglaublich viele Erinnerungen und Gefühle hoch, teils ziemlich heftig, obwohl es doch schon so lange her ist.

Man darf die Kindheit nicht unterschätzen. Nichts im Leben prägt uns so sehr wie unsere frühen Jahre. Von der österreichischen Schriftstellerin Maja Haderlap stammen folgende Worte: Ich bin in die Kindheit eingepflanzt wie ein Holzpfahl auf einem Hof, an dem man täglich rüttelt und prüft, ob er das Rütteln wohl aushalten wird. In der Kindheit schlagen wir unsere Wurzeln, und sie tragen massgeblich dazu bei, ob wir dem Schütteln und Rütteln des Lebens standhalten.

Deshalb ist es für mich etwas vom Schönsten, wenn ich ein Kind sehe und spüre, dieses Kind ist gesund – und zwar da drinnen, in seiner Seele. Es gibt Kinder, bei denen ich das nicht spüre, und dann hoffe ich, dass ich mich irre.

Wie viele alte Menschen, die auf die Neunzig zugehen oder schon darüber sind, ist auch der Verstorbene in einfachen Verhältnissen aufgewachsen: die Zeiten (Krieg) waren hart, die Erziehung streng, die Arbeit schwer, und trotzdem erlebte er eine freie und glückliche Jugend: Reiten ohne Sattel, Baden in der Donau, Eislaufen auf dem zugefrorenen Dorfteich. Vielleicht verbinden ja auch manche von Ihnen solche oder ähnliche Erinnerungen. Glücklich, wer sie hat! Denn wo kann man das heute noch: Eislaufen auf dem zugefrorenen Dorfteich? Dafür umso mehr Joggen durch die Fussgängerzone.

Und dann gibt es noch etwas, warum unsere Kindheit so wichtig ist. Erst gegen Ende unseres Lebens sind wir unserer eigentlichen Heimat wieder so nahe, wie seinerzeit in der Kindheit. Ein Kind bringt die Reinheit jener anderen Welt in diese geplagte Welt mit. Naht das Ende unseres Lebens, sollten wir schauen, dass wir wieder einigermassen zu dieser ursprünglichen Reinheit zurückfinden, denn davon ist im Laufe der Jahre einiges verloren gegangen.